Umdenken – ein anderer Blick aufs Fliegen
Die Normen und Diskurse rund ums Fliegen, denen wir täglich begegnen, haben in unseren Köpfen ein positives Bild vom Fliegen etabliert. Diese “mentalen Infrastrukturen” wirken wie Gewohnheiten, an denen wir uns orientieren und die unser Denken und Handeln leiten. Welche Alternativen gibt es zu diesen etablierten Diskursen und wie können wir uns stärker an ihnen orientieren?
Das stimmt nicht – Fliegen ist einer kleinen Gruppe von privilegierten Menschen vorbehalten. Selbst in Deutschland fliegen 60 % der Bevölkerung selten oder gar nicht, bei niedrigen Einkommen sind es sogar 83 %. Nur ein kleiner Teil der Menschheit hat jemals in einem Flugzeug gesessen. Wie häufig Menschen fliegen, hängt stark von ihrem Einkommen ab. Von den Subventionen für den Luftverkehr profitieren daher vor allem Menschen mit hohem Einkommen, die mehr fliegen als Menschen mit geringerem Einkommen.
Das ist nur in Teilen richtig. Die Möglichkeit zu fliegen schafft in vielfältiger Weise ökonomischen Wert, aber: die ökonomischen und ökologischen Folgen, die die Klimaerhitzung für eine große Anzahl Menschen auf der Welt hat, sind desaströs. Außerdem ist Fliegen gegenüber anderen Verkehrsmitteln hochsubventioniert.
Wir sollten Fliegen als soziale Norm hinterfragen. Wenn wir Klimaschutz und einen maßvollen persönlichen ökologischen Fußabdruck als ein Kriterium für verantwortungsvolles und ethisches Handeln sehen, bröckelt das positive Bild vom Fliegen. Außerdem bietet das terrane Reisen und Unterwegssein – also eine geerdete und bodenständige Fortbewegung ohne Flugzeug – oftmals mehr Zeit, uns mit den Orten, an denen wir uns aufhalten, auseinanderzusetzen. Es bietet sich an, auch auf dem Weg von A nach B interessante Orte zu besuchen, die im Flugzeug sonst nur überflogen werden. Langsames Reisen kann mehr zu interkultureller Verständigung beitragen als ein schneller Flug an ein entferntes Ziel. Für soziale Beziehungen über sehr weite Strecken werden wir auch zukünftig auf das Flugzeug angewiesen sein. Unter der Maßgabe, ökologischer zu handeln, sollten wir stets überlegen, in welchen Fällen wir weite Reisen seltener antreten und dafür länger vor Ort bleiben können.
Diese Perspektive wird unterstützt durch Billigflüge, Anreize für Vielflieger*innen und Diskurse zu wirtschaftlicher Entwicklung und interkultureller Verständigung. Natürlich möchte niemand darauf verzichten, die Welt kennenzulernen. Aber gleichzeitig muss aus ethischer Perspektive ein Rahmen für unser Mobilitätsverhalten gesetzt werden. Wir müssen uns nicht per se für jeden Flug schämen, sollten aber persönlich abwägen, ob Fliegen für uns notwendig und der Nutzen eines Flugs größer ist als der Schaden für das Klima. Es ist herausfordernd, sich dazu zu entschließen, weniger zu fliegen. Alternativen sind zumindest für größere Distanzen teurer, unbequemer, dauern länger und gegenüber Freund*innen oder Kolleg*innen muss man sich dafür rechtfertigen. Aber: auf vielen Strecken gibt es gute Alternativen. Für kurze und mittlere Distanzen ist die Bahn mittlerweile so gut wie gleich schnell. Erholung kann auch in langsamerem Reisen an naheliegendere Orte liegen: Eine Bahnfahrt kann als Zeit zum Lesen, Nachdenken, Spielen und Unterhalten bereits Momente der Entspannung auf der Reise schaffen und bietet dabei mehr Platz als ein enges Flugzeug. Eine Bahnreise bietet darüber hinaus die Möglichkeit, länger und ungestörter zu arbeiten, weil keine Prozedur zum Check-In notwendig ist, und elektrische Geräte im Flugzeug nicht durchgehend genutzt werden können.
Bei all dem gilt: Am Ende liegt große Verantwortung auf der Politik, Klimaschutz umzusetzen und dazu an den relevanten Stellschrauben zu drehen. Nur eine politische Regulierung setzt Regeln für alle und überlässt unser Handeln nicht allein der persönlichen moralischen Einschätzung. Trotzdem beeinflussen sich individuelles Handeln und politische Regulierung gegenseitig. Ohne deutliche Signale aus der Gesellschaft, dass viele Menschen Regeln für mehr Klimaschutz befürworten und zu Verhaltensänderungen bereit sind, wird sich die Politik kaum ändern.
Das Mobilitätsverhalten überdenken
So lange die Politik nicht handelt, müssen wir freiwillig etwas tun. Dazu müssen wir etablierte Denk- und Handlungsmuster hinterfragen. Es gibt Bewegungen, die versuchen, alternative Diskurse zu etablieren und Alternativen stärker in unseren Köpfen zu verankern. Der Verein terran e.V. setzt sich zum Beispiel dafür ein, das Konzept des terranen Reisens zu verbreiten.
Die Debatte um Flugscham hat Menschen dazu veranlasst, ihr Mobilitätsverhalten zu überdenken und das gesellschaftliche Bewusstsein über die Klimafolgen des Fliegens verstärkt. Sie hat in Deutschland mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu beitragen, dass 2019 die Zahl der Inlandsflüge deutlich zurückgegangen ist. Das Gleiche lässt sich auch in Schweden beobachten. Dabei geht es nicht nur um das Fliegen per se, sondern auch um die Verhältnismäßigkeit eines Flugs in Bezug auf die zurückgelegte Strecke, den Grund für die Reise und die Häufigkeit, mit der ein Mensch ein Flugzeug betritt.
Darüber hinaus beeinflusst unser persönliches Verhalten andere Menschen, weil es ein erstes Anzeichen für einen möglichen Wandel ist: So gab in einer Studie der Cardiff Universität die Hälfte der befragten Personen an, ihr Flugverhalten geändert zu haben, weil jemand in ihrem Bekanntenkreis aus Klimaschutzgründen ganz auf das Fliegen verzichtet. Eine weitere Studie kommt zu dem Schluss, dass Wissenschaftler*innen mit einem niedrigen ökologischen Fußabdruck durch wenig Fliegen als glaubwürdiger wahrgenommen werden also solche mit einem hohen ökologischen Fußabdruck.
Gleichzeitig sollten wir den Fokus der Debatte um die Zukunft des Luftverkehrs nicht auf den persönlichen Verzicht lenken. Denn während Fliegen ein Privileg für eine Minderheit der Weltbevölkerung ist, ist es ebenfalls ein Privileg, sich gegen das Fliegen entscheiden zu können, wenn man höhere Kosten für andere Verkehrsmittel bezahlen kann, Familienmitglieder in der Nähe wohnen und nicht in die Ferne ziehen müssen, um Arbeit zu suchen, und der eigene Pass kein Hindernis für eine Reise über Land ist. Wer dieses Privileg hat, sollte es nutzen, aber kein Urteil über gelegentliche Flüge anderer fällen.
Links zu weiterführenden Informationen
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Attari, S. Z.; Krantz, D. H.; Weber, E. U. (2016): Statements about climate researchers’ carbon footprints affect their credibility and the impact of their advice. In: Clim.Change 138 (1-2), S. 325–338. DOI: 10.1007/s10584-016-1713-2.
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ISOE (2020): Zur Legitimität des Fliegens. Eine Diskurserweiterung der Flugscham-Debatte.
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Gössling, Stefan; Hanna, Paul; Higham, James; Cohen, Scott; Hopkins, Debbie (2019): Can we fly less? Evaluating the ‘necessity’ of air travel. In: Journal of Air Transport Management 81. DOI: 10.1016/j.jairtraman.2019.101722
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Ivanova, Diana; Wood, Richard (2020): The unequal distribution of household carbon footprints in Europe and its link to sustainability. In: Global Sustainability 3, S. 1–12. DOI: 10.1017/sus.2020.12
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Westlake, S. (2017): A Counter-Narrative to Carbon Supremacy: Do Leaders Who Give Up Flying Because of Climate Change Influence the Attitudes and Behaviour of Others? In: SSRN Journal. DOI: 10.2139/ssrn.3283157